Dienstag, 6. Oktober 2009

"Die Krise" - was kommt danach?

Bisher Beitrag zum Wettbewerb der Wochenzeitung DIE ZEIT 29/2009 zum Thema "Welche Wahl läßt uns die Krise?"
von Helmut Böhme

(Text abgeschlossen am 8.8.2009)
"Die Krise" gleicht einer tückischen Krankheit. Die Operation am offenen Herzen ist beendet. Die Krisis, der schmale Grat zwischen Leben und Tod, ist noch nicht überstanden. Zaghaft und stockend kommt der Geldkreislauf in Gang. Die Diagnose ist eindeutig eine ökonomische Krise. Deutschland hat ein Breitbandmedikament entwickelt, das bei regelrechter Anwendung weltweit helfen könnte: die soziale Marktwirtschaft. Es kommt jetzt darauf an, das Intervall zwischen zwei Wachstumsphasen der Wirtschaftszyklen erfolgreich zu überbrücken. In einer solchen Notsituation kann man nur mit den Mitteln arbeiten, die zur Verfügung stehen und einsatzbereit sind. Eine demokratische Gesellschaft lebt von der Zustimmungsbereitschaft der Menschen. Von mündigen Bürgern kann man nur dann Zustimmung erwarten, wenn sie in der Lage sind, Sachverhalte und Zusammenhange zu erkennen und zu bewerten. Deshalb müssen Entscheidungsprozesse in Demokratien nachvollziehbar bleiben, auch bei zunehmender Komplexität der Probleme. Diese Tatsache schränkt die Möglichkeit ein, weitere politische Maßnahmen zu ergreifen. Sie zeigt zugleich die Dringlichkeit auf, Wissenschaft, Forschung und Bildung auf neue Inhalte und Methoden einzustellen. Die gegenwärtige Regierung hat entsprechende Schwerpunkte gesetzt, nun kommt es auf Inhalt und Verwirklichung an.

Das Breitbandmedikament soziale Marktwirtschaft hat seine Langfristwirkung eingebüßt. Seine beiden wesentlichen Komponenten wirtschaftliches Wachstum und soziale Balance lassen sich auf Dauer nicht aufrechterhalten. Demographischer Wandel und das Ende des unbegrenzten Wachstums führen früher oder später in eine Sackgasse wirtschaftlicher Entwicklung. Dennoch ist zur Zeit aus den bereits genannten Gründen die soziale Marktwirtschaft das Mittel der Wahl.

"Die Krise" gleicht einem Raketenkopf, der, am Scheitelpunkt angekommen, auseinanderbirst und eine Vielzahl anderer Krisen freisetzt. Jetzt handelt es sich nicht mehr allein um eine ökonomische Krise, sondern um eine Vielzahl, von denen ich nur zwei Beispiele nenne. Zunächst die Krise der Demokratie. „Die Priorität der Geschwindigkeit bedeutet in Wirklichkeit die Zerstörung der Demokratie, weil sie dem einzelnen nur noch die Wahl läßt, entweder sich dem Tempo anzupassen, oder abgehängt zu werden, also keine Wahl mehr läßt. [...] Die Zivilisation der Zeit bringt keine Sprache hervor, die ihr in eigenen Kategorien begegnen kann“ (Baier, 1990). Hier sollte der „Gedanke der Toleranz, aufgebaut auf der Verschiedenheit der individuellen Geschwindigkeiten oder Geschwindigkeitsphasen“ (Nadolny, 1983) hilfreich sein. Aus dem Geschwindigkeitsdilemma folgt - und das ist das zweite Beispiel - das des demographischen Wandels. In den entwickelten Industrienationen müssen immer weniger immer mehr Menschen unterhalten, erziehen, betreuen und pflegen. In den weniger entwickelten Ländern der Welt wächst der Überdruck und bahnt sich gewaltsam Wege in eine vermeintlich bessere Welt.

Aus "der Krise", die nur mittelfristig zu beheben ist, sind viele Krisen geworden, deren Lösung die Aufgabe von Generationen ist. Mit Recht haben verantwortliche Regierungen den Ansatz zur Lösung von Zukunftsaufgaben in Wissenschaft, Forschung und Bildung gesehen. Es kommt nun darauf an, ob und wie diese Ansätze ausgebaut und genutzt werden.

Ich sehe nur einen Weg, den ich provokatorisch vereinfachend mit einem Begriffspaar benenne als den Weg "von der Wachstumsgesellschaft zur Überlebensgesellschaft". Hier kann es nicht um einzelne Maßnahmen gehen, sondern um einen grundsätzlichen Wandel der gesellschaftlichen Ziele. Als Ausgangspunkte für weitere Überlegungen und Untersuchungen stelle ich vier Thesen vor:
1. Die zentrale Frage der Zukunft zielt auf die Fähigkeit des Menschen mit sich, mit seinen Mitmenschen und mit seiner Umwelt so umzugehen, daß er überlebt.
2. Wachstum verliert seine zentrale Bedeutung. An seine Stelle tritt dynamisches Gleichgewicht. Nicht immer mehr von vielem, sondern immer mehr Nachhaltigkeit von Wichtigem ist gefragt. Entsprechend ändern sich die Wertmaßstäbe.
3. Dieser Wertewandel in der Gesellschaft führt zur Verlagerung auch in der Wahl von Instrumenten für die Bewertung. Neue Kategorien gewinnen an Bedeutung.
4. Man wird sich von geschlossenen Systemen ab- und offenen Netzwerken zuwenden müssen, um den Weg in die Zukunft zu öffnen. Lebendige Systeme sind immer nach außen offen, von außen zugänglich. (Vester, 1980; 1993).

Es geht um die Fähigkeit des Menschen - nicht um ein technisches, ökonomisches oder ökologisches Problem. Dazu zwei Aussagen. Einmal zur Identität des Menschen und zu seinem sozialen Verhalten: Woher komme ich, wo stehe ich und wohin will ich gehen? Die Antworten auf diese Fragen klären die Identität einzelner ebenso wie gesellschaftlicher Gruppen und Nationen. Dazu gehört die Erkenntnis, daß ohne die Vergangenheit die Gegenwart ohne Aussagekraft bleibt und die Zukunft ohne Ziel. "Eine Bevölkerung, welche die Koordinaten ihrer geschichtlichen, kulturellen und sozioökonomischen Existenz nicht kennt, ist eine Gesellschaft von Unmündigen" (Greiffenhagen, 1979) - und ich füge hinzu, auch der seelischen und ökologischen Existenz. Niemand wird ein mündiger Bürger, ein verständnisvoller Nachbar oder ein opferbereiter Sozialpartner sein, wenn ihm nicht Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als ein Gemeinsames bewußt sind. Dies gilt für den einzelnen, für gesellschaftliche, nationale und ethnische Gruppen gleichermaßen. Sie sind dann in der Lage, Inhalt, Ziel und Richtung ihres Lebens deutlich auszudrücken und zu vertreten. Damit haben sie ihre kulturelle Identität gefunden.

Ist das alles nicht längst gesagt? Ja, das Rad ist erfunden. Die Bestandteile des Wagens liegen vor. Noch fehlt der Bauplan, der sagt, wie die Einzelteile zusammengefügt werden, es fehlen Motor und Steuerung. Was hilft weiter? Hier ist die Politik gefragt. Für mich ist der Präsident der USA, Barack Hussein Obama das weltweit beste Beispiel dafür, dass dieser Weg von Politikern begangen werden kann und Aussicht hat, auf solidem Grund aus der Krise zu führen. Zunächst ist er den schwierigen Weg gegangen, sich seiner Identität bewußt zu werden. („Dreams of my Father“, 1995) Dann konnte er sich seinen Mitmenschen zuwenden. ("The Audacity of Hope", 2006) Als Präsident hat er deutliche Signale gesetzt bis hin zu der Feststellung, dass die Zukunft der USA abhängt vom Gelingen der Sozialversicherung. Freilich, weder er selbst noch irgendwer anders weiß, ob er Erfolg haben wird.

Welche Wahlmöglichkeiten läßt uns nun die Krise – in den USA, in Deutschland und weltweit? Grundsätzlich genommen viele, aber diese sind aus meiner Sicht nicht tragfähig.
Für mich gibt es nur einen Weg in die Zukunft: die Überlebensgesellschaft. Sie erst eröffnet vielfältige Möglichkeiten zur Bewältigung aktueller und künftiger Krisen. Auf diese Weise lässt uns „die Krise“ indirekt viele Wahlmöglichkeiten. Mit Mut und Risikobereitschaft könnten wir das Überleben von Mensch und Natur auf dieser Erde erreichen. Das wäre ein Neuanfang. –

Hoffen wir, daß es noch nicht zu spät ist!

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